Trendradar: Nearshoring
Die Logistikwelt der vergangenen Jahrzehnte war vor allem von Offshoring-Strategien mit weitläufigen Supply Chains geprägt, mit niedrigen Herstellungs- und Arbeitskosten in den vorwiegend asiatischen Produktionsländern. In den letzten Jahren zeigte aber eine Reihe geopolitischer Ereignisse, wie verwundbar diese langen, globalen Lieferketten sein können: Die Corona-Pandemie, die Blockade des Suez-Kanals, der russische Angriffskrieg auf die Ukraine, die Angriffe der Huthi-Miliz im Roten Meer und weitere Ereignisse schränkten und schränken den internationalen Handel ein. Je länger die Lieferkette, desto höher ihre Anfälligkeit für Störungen. Immer mehr Unternehmen verlagern daher im Rahmen von Nearshoring-Strategien ihre Produktions- und Logistikstandorte näher an ihre Zielmärkte.
Ökologisch gesteigerte Lieferkettenresilienz
Nearshoring steigert die Widerstandsfähigkeit und Effizienz von Lieferketten. Die räumliche Nähe vereinfacht die Verwaltung von Zulieferern, erleichtert Qualitätskontrollen, ermöglicht effektiveres Marktmonitoring und dadurch auch zeitigere Reaktionen auf Nachfrageänderungen oder Unterbrechungen. Abläufe werden insgesamt schneller und zuverlässiger, und Unternehmen können den Anforderungen ihrer Kunden konsequenter gerecht werden.
Darüber hinaus kann die Kommunikation zwischen Standorten besser stattfinden. Angrenzende Regionen liegen meist auch kulturell näher beieinander, was einen klareren Austausch ermöglicht und Missverständnisse minimiert. Dadurch können Unternehmem auch leichter eine kohärente Organisationskultur aufbauen und so das Engagement von Mitarbeitenden stärken. Zudem ist die zeitliche Nähe nicht zu unterschätzen: Während bei Offshoring-Partnerschaften zwischen Europa und Asien bis zu acht Stunden zwischen den Standorten liegen, sind bei Nearshoring die Arbeitszeiten der Teams kongruenter und damit längere Zeitfenster zum direkten Austausch gegeben.
Über diese wirschaftlichen Aspekte hinaus hat Nearshoring auch Vorteile beim Thema Nachhaltigkeit. Durch die verkürzten Transportstrecken sinken der Kraftstoffverbrauch und damit die Emissionen. Insgesamt führen die eingeschränkten logistischen Tätigkeiten zu einer besseren Energie- und CO2-Bilanz. Außerdem können Unternehmen durch das unmittelbarere Nachfragemonitoring knapper planen und Überproduktion vermeiden – was neben den ökologischen auch die finanziellen Ressourcen schont.
Friend- und Nearshoring in Europa
Eng mit Nearshoring verknüpft ist der Begriff des „Friendshoring“: die Umverlagerung von Lieferketten in Länder, die als politische oder wirtschaftliche Verbündete gesehen werden. Die beiden Trends überschneiden sich: Meistens liegen diese Länder auch nahe an den Zielmärkten, zum Beispiel bei Nearshoring-Projekten in der Europäischen Union (EU).
Nearshoring lohnt sich für Unternehmen, die den EU-Markt beliefern wollen, insbesondere durch die politischen Gegebenheiten. Beispielsweise der europäische Green Deal, in dessen Rahmen die Europäische Union (EU) bis 2050 die Klimaneutralität erreichen will: Nearshoring-Projekte profitieren hier von den Umweltvorschriften, die ihre Nachhaltigkeitsbemühungen fördern. Auch die arbeitsrechtlichen Anforderungen des EU-Lieferkettengesetzes lassen sich durch die geografische Nähe leichter umsetzen. Darüber hinaus unterstützen einige EU-Maßnahmen Nearshoring direkt, beispielsweise der 2023 verabschiedete European Chips Act, in dessen Rahmen 43 Milliarden Euro zur Erhöhung der Halbleiterproduktion und Bewältigung von Versorgungsschwierigkeiten bereitgestellt werden.
Innerhalb von Europa birgt aktuell vor allem der MOE-Raum (Mittel- und Osteuropa) Potenzial für Nearshoring-Vorhaben. Beschäftigungskosten und Gewerbesteuern in der Region sind vergleichsweise niedrig, gleichzeitig ist für die kommenden Jahre ein überdurchschnittliches Wirtschaftswachstum prognostiziert. Bulgarien und Rumänien sind die Länder mit der höchsten Kosteneffizienz im gesamten EU-Vergleich, wobei Rumänien für Nearshoring-Projekte durch seine zentralere Lage und bestehenden Öl- und Gasvorkommen besonders hervorsticht.
In Deutschland hingegen sehen sich Unternehmen höheren Beschäftigungskosten gegenüber. Mit einer Ansiedlung in der Bundesrepublik gehen aber auch viele Vorteile einher wie den Pool an hochqualifizierten Arbeitskräften. Darüber hinaus profitieren Unternehmen von der zentralen Lage im Herzen Europas sowie von der guten Infrastruktur mit einem hervorragenden Autobahnnetz – gerade für Logistiker ein Pluspunkt.
Wo sich Unternehmen ansiedeln, ist also auf Case-to-Case-Basis zu entscheiden, abhängig von der Zielgruppe, der zur Produktion notwendigen Resssourcen, dem Budget, etc. Fest steht jedoch, dass Nearshoring für viele Unternehmen eine attraktive Strategie für mehr Versorgungssicherheit und Nachhaltigkeit ist – und der Trend die internationale Logistik, insbesondere in der EU, wohl noch für einige Jahre prägt.
Autor: Stephan Küper, Geschäftsführer & Business Development bei WDP Deutschland
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